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Samstag, 9. Mai 2015

Konsens und Kontroverse

Im Vorfeld der britischen Parlamentswahlen wurde in der "Welt" eine Diskussion über das Mehrheitswahlrecht geführt. Als es den Prognosen zufolge nach einem Patt, oder "Hung Parliament"  zwischen Konservativen und Labour aussah, gab es Spekulationen wer mit wem koalieren müsse, um überhaupt eine Regierung bilden zu können. Man war gar der Ansicht, am Ende setzten sich David Cameron und Ed Miliband an einen Tisch um eine Regierung zu bilden.
In Großbritannien sind Koalitionen nicht besonders beliebt und das Mehrheitsrecht bei Wahlen soll, was der Name dieses Systems verspricht, eine Mehrheit erzeugen. Nicht während nächtelanger Koalitionsverhandlungen in denen es angeblich immer um Sachthemen, aber nie um Personalfragen geht, was glauben mag wer sich veräppeln lassen will, sondern durch die Bildung einer Mehrheit im Wahlkreis. Damit werden Koalitionen nicht ausgeschlossen, aber erheblich erschwert, weil die Kandidaten kleiner Parteien geringe Chancen haben, eine Mehrheit zu erreichen.

Nun sah es vor dem 7. Mai erneut im Vereinigten Königreich nicht nach einer solchen Mehrheit aus. Und in Deutschland machte sich so etwas wie Schadenfreude breit, dass nun auch das Mehrheitswahlrecht keine Mehrheiten mehr hervorbringt. Endlich konnte man mal wieder die Parteilisten und die Zettelwirtschaft des bundesdeutschen Wahlrechts anpreisen.
Doch wieder Erwarten funktionierte immer noch, was auch in den USA, Kanada und Australien stabile Mehrheiten erzeugt.

Doch weil Deutschland nicht umsonst als Land der Schulmeisterei gilt, wurde flugs auch das Erzielen der deutlichen Mehrheit (ob mit oder ohne Sinn Fein) durch die Konservativen als Zeichen der Untauglichkeit des Mehrheitsrechts umdeklariert.
Denn, so sprach der aus dem Hut springende Hase:
Die schottischen Nationalisten hätten viel weniger Stimmen als die ihnen entsprechende Sitze bei der Anwendung des deutschen Wahlsystems und die UKIP viel weniger.

Ja, genau. Das macht eben den Unterschied aus.
Für die "Welt" ist eine solche Wahl somit gar keine  mehr.
Der britische Souverän konnte also nie wählen, weil es nie eine Wahl gab!
Unglaublich.
Das muss doch mal einer diesen Inselaffen klarmachen!

Die "Welt" hat auch einen britischen Staatsrechtler gefunden der bereits seit Mitte der Siebziger für das deutsche Wahlsystem Werbung macht und regelmäßig eine Verfassungskrise heraufbeschwört.
Eines dass, wie sollte es auch anders sein, einen dritten Weg zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl darstellt. Kompliziert natürlich, sonst wäre es nicht landestypisch und das BVerfG könnte sich nicht ständig damit befassen.

Wir in Deutschland lieben dritte Wege. Von allem etwas. Nicht eines und das andere nicht, nein, das wäre zu einfach. Es muss alles irgendwie enthalten sein, dann ist es gerecht und damit deutsch.
Taucht irgendwo eine vermutete Ungerechtigkeit auf, an der die eigene Gerechtigkeitsliebe moralisch inszeniert werden kann, findet sich immer jemand in unserem Land, der diesen Job gerne übernimmt. Das ist gewissermaßen Ehrensache.
Man spricht hierzulande nicht so gern darüber: Aber eine Groko hat mit der Idee des Parlaments, aufgeteilt in Opposition und Regierung, nicht mehr viel gemein. Und in Deutschland häufen sich die Grokos. Es wäre keinesfalls verwunderlich, wenn die jetzige auch die zukünftige sein wird.
Es sei denn der Union gelänge, was sie das letzte Mal knapp verfehlte: Eine absolute Mehrheit. Mit einem Einzug der AfD in den deutschen Bundestag und vielleicht auch der FDP könnte sie das jedoch vergessen.
Auch wenn Parteilisten Politiker wie Andrea Nahles zu Abgeordneten machen, Parlamentarier kaum noch einen Beruf ausüben, sondern nichts weiter als Funktionäre die finanziell abhängig sind von Parteiposten und es trotzdem einen Klassenunterschied im Deutschen Bundestag gibt, zwischen jemanden der über "Liste" gewählt wurde oder ein Direktmandat errungen hat - unser System ist super.

Doch zurück zu dem britischen Staatsrechtler auf den sich die "Welt" beruft, wenn sie schreibt, der Verlierer der Unterhauswahl sei das Wahlsystem. Egal, ob ein "Hung Parliament" herauskommt oder eine stabile Mehrheit.
Sein Name ist Vernon Bogdanor, er gilt als einer der renommiertesten Verfassungsexperten des Königreiches und einer seiner Schüler war David Cameron.
Im Jahr 2010 als sich nach 1974 wieder eine Koalition abzeichnete, schrieb er einen Artikel auf Spiegel Online, in dem er zum Wahlsystem in seinem Land eine ähnlich distanzierte Haltung einnimmt, wie der Autor dieser Zeilen zu dem in seinem Land. Vernon Bogdanor schreibt:
In Deutschland sind "hung parliaments" auf Grund des Verhältniswahlrechts die Norm - und führen zu stabilen Koalitionen. In der politischen Kultur Großbritanniens, die sehr viel mehr von der Kontroverse lebt, gelten Koalitionen jedoch als Ausnahmen. Die Parteien sind es nicht gewohnt, Kompromisse zu finden, wie es eine Koalitionsregierung erfordert.
Die Konservativen erreichten bei der Wahl 36 Prozent der Stimmen, Labour 30 Prozent und die Liberaldemokraten 24 Prozent. Viele Deutsche werden denken, dass ein "hung parliament" das einzig richtige Ergebnis ist, da keine Partei eine Mehrheit der Stimmen gewonnen hat.
Im weiteren Verlauf seines Artikels stellt er fest, dass das Wahlrecht die Konservativen benachteiligt, Stimmen "verschwendet" werden und wundert sich über ihr Festhalten am bestehenden Wahlsystem. Die Liberaldemokraten sind wie der Professor für ein Verhältniswahlrecht, was wenig verwundert. Entgegen seiner Vorhersage konnten sie keine Wahlrechtsreform durchsetzen, regierten trotzdem die volle Legislatur mit den Konservativen und haben vorgestern fast alle ihre Sitze verloren. Also trommelt Herr Bogdanor weiter, diesmal bei der "Welt".

Was er aber übersieht, ist das, was er klar zum Ausdruck bringt:
In GB gibt es eine politische Kultur die mehr von der Kontroverse lebt.
Und ich kann dem hinzufügen:
In Deutschland gibt eine politische Kultur die mehr vom Konsens lebt.

Eine politische Kultur der Kontroverse ist es aber auch, wenn ein Repräsentant der repräsentativen Demokratie aus einem Wettbewerb hervorgeht. Dem Mehrheitswahlrecht liegt ein Leistungsprinzip zugrunde, welches in Deutschland immer weniger zählt. Die Repräsentanten werden ausgewählt und dabei fallen die Stimmen weg, die den Verlierern dieses Rennens galten. Das ist keine Frage von Gerechtigkeit oder gar ein Zeichen mangelnder Demokratie. Es zeigt, wie ein Land Demokratie versteht.
Sucht es den Konsens, oder will es im Wettbewerb die Gewinner in das Parlament entsenden.
Überlässt es den Parteien festzulegen, wer den Souverän repräsentiert oder dem Souverän selbst, in dem er nicht nur wählt, sondern auswählt.

Deutschland wird derzeit von einer Art Regierung der nationalen Einheit regiert, wie sie in auch in demokratischen Staaten während krisenhafter Situationen durchaus angebracht sein kann - als Ausnahme.
Nur was mal eine Ausnahme war, wird immer mehr zur Normalität. Ohne dass dies Diskussionen um unser Wahlsystem auslöst. Angesichts der wiederkehrenden Grokos in Deutschland scheinen mir Überlegungen bezüglich einer Krise des Parlamentarismus hier wesentlich angebrachter zu sein, als sich in Sorgen um das britische Wahlrecht zu ergehen.
Deutschland hätte allen Grund sein Wahlsystem zu ändern, um dem sogenannten Arbeitsparlament wieder etwas mehr Leben, etwas mehr Selbstverständnis und Eigenständigkeit einzuhauchen.

Darüber hinaus gäbe es so viel zu dem Wahlsieg Camerons zu sagen. Zum Beispiel dass mit ihm die Briten ein geradezu auserwähltes Volk innerhalb der EU sind.
Sie können abstimmen ob unter noch auszuhandelnden Bedingungen das Vereinigte Königreich in der EU verbleibt, oder eben nicht.
Auch deshalb wurde Cameron gewählt. Er soll aushandeln worüber dann 2017 abgestimmt wird. Was hierzulande als das Braten von Extrawürsten abgetan wird, gibt dem Begriff Subsidiaritätsprinzip seine längst in Vergessenheit geratene Bedeutung zurück.
Weniger EU-Zentralismus täte auch anderen Ländern gut.

Aber genau an diesem Punkt treffen zwei politische Kulturen aufeinander: Konsens und Kontroverse,
Großbritannien und Kontinentaleuropa und zwei unterschiedliche Wahlsysteme.

Erling Plaethe

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